Koch, T., Gollub, P. & Zorn, S. K.
Forschungsartikel (Buchbeitrag) | Peer reviewedDie Lehrer*innenbildung in Deutschland zeichnet sich durch ihre besondere Organisationsstrukturaus. Hericks (2004) identifiziert in Anlehnung an die Gemischte KommissionLehrerbildung der Kultusministerkonferenz (Terhart, 2000) drei Phasen: Die erste,universitäre Phase legt einen Schwerpunkt auf berufsrelevante wissenschaftlicheGrundlagen des Lehrer*innenberufs. Daran schließt sich der Vorbereitungsdienst alseine zweite Phase, ,,[...] deren Gegenstand die Erarbeitung und Einübung unmittelbarerberuflicher Handlungskompetenz und erster Routinen darstellt‘‘ (Hericks, 2004, S.302) an. Die dritte Phase des berufsbegleitenden Lernens beginnt mit der Berufseingangsphase.Diese Mehrphasigkeit führt dazu, dass es bei den Phasenübergängen zu Spannungenkommen kann. Negative Folgen für die Kohärenz des Professionalisierungsprozessessind dabei nicht auszuschließen. Bereits seit dem Ende der 1970er Jahren wird unterdem Schlagwort Praxisschock ein Diskurs über den übergang von der ersten Phasein die zweite Phase geführt. Dabei stand zunächst eine Verschiebung der Einstellungender zukünftigen Lehrpersonen bezüglich Erziehung und Schule während des Referendariatszugunsten konservativer Haltungen als Reaktion aufDiskrepanzerfahrungen zwischen universitärer Ausbildung und schulischer Wirklichkeitim Vordergrund (Müller-Fohrbrodt, Cloetta & Dann, 1978; siehe auch Scholz,1977; Günther & Massing, 1980). Dieser Ansatz erlangte unter dem Begriff KonstanzerWanne Bekanntheit und gilt heute als überholt (Baer et al., 2011). In den vergangenenJahren stand in der Forschung eher das individuelle Belastungserleben während desVorbereitungsdienstes im Vordergrund: Dicke et al. weisen für Lehramtsanwärter*innen,,a significant increase of emotional exhaustion‘‘ (2015, S. 67) im Verlauf des erstenJahres nach. Auch Klusmann, Kunter, Voss und Baumert, die sich auf die Ergebnisseder COACTIV-Studie stützen, konstatieren, ,,dass die mittlere emotionale Erschöpfungder Lehramtskandidaten im ersten Jahr des Vorbereitungsdienstes statistischsignifikant zunimmt [...].‘‘ (2012, S. 282).Das fünfmonatige Praxissemester in Nordrhein-Westfalen zielt u. a. darauf ab, die Studierendenbereits während der ersten Phase auf die Anforderungen der zweiten Phasevorzubereiten. Es erscheint daher plausibel, dass das Praxissemester zu einer Harmonisierungdes Phasenübergangs beitragen und das Auftreten eines Praxisschocksverhindern bzw. abschwächen kann. Dieses in der Forschungsliteratur zum Praxissemesterhäufig formulierte Potenzial (z.B. Rotermund, 2006; Holtz, 2014; Wachnowski& Kull, 2015; Beckmann et al., 2018) entbehrt bislang allerdings empirischer Absicherung(Porsch & Gollub, 2020 i. Dr.).In der vorliegenden Interviewstudie (Gläser & Laudel, 2019) werden Referandar*innenmit und ohne Praxissemester im Lehramtsstudium (n=8) nach ihrem Belastungserlebenim Vorbereitungsdienst befragt. Im Anschluss an die Transkription der Interviews(Dresing & Pehl, 2011) erfolgt die Auswertung mittels einer inhaltlich strukturierendenqualitativen Inhaltsanalyse (Kuckartz, 2018), wobei deduktiv vier Hauptkategorien undinduktiv 58 Subkategorien gebildet werden können.Die Ergebnisse verdeutlichen (Koch, 2020 i. Dr.), dass alle angehenden Lehrpersonen,die ein Praxissemester absolviert haben, das Praxissemester sowohl im Hinblick aufseine Qualität als auch hinsichtlich der Betreuung in dieser Zeit als positiv beurteilen.Dabei fällt auf, dass Aspekte, die in der Verantwortung der ZfsL liegen (z.B. Seminarveranstaltungen,das BPG oder die Unterrichtsversuche) ausschließlich positiv hervorgehobenwerden. Die Befragten, die kein Praxissemester absolviert haben, benennendie Kern- oder Fachseminare bzw. ihre Seminarleiter*innen sowie Schulstrukturen hingegenals Belastungsursache; beide Subkategorien werden von der anderen Teilgruppenicht angesprochen, da es sich um Anforderungen handelt, die sie bereitswährend des Praxissemesters kennenlernen konnten. Darüber hinaus berichten dieReferendar*innen ohne Praxissemester häufiger von einer hohen Belastung zu Beginndes Vorbereitungsdienstes als ihre Kolleg*innen mit Praxissemester. Zuletzt offenbarendie Daten, dass es bei den Befragten zwar zum Teil zu einem Einstellungswandelkommt, allerdings nicht derart, wie er beim Konzept der Konstanzer Wanne angenommenworden war. So gaben einige Befragte an, dass sie zur Stressreduzierung ihrepersönliche Einstellung u.a. hinsichtlich ihrer eigenen Ansprüche an Unterrichtsplanungund -durchführung, der Benotung oder zum Vorbereitungsdienst selbst veränderten.Auch wenn aufgrund fehlender Trennschärfe beim individuellen Belastungserleben allgemeingültigeAussagen zum Praxisschock nur eingeschränkt getroffen werden können,lässt sich eine Phasenharmonisierung allerdings deutlich nachweisen. Konklusivwird daher eine stärkere Trennung dieser Bereiche im wissenschaftlichen Diskurs vorgeschlagen.Literatur:
Gollub, Patrick | Institut für Erziehungswissenschaft (IfE) Professur für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Allgemeine Didaktik und Unterrichtsforschung (Prof. Rothland) |
Koch, Tobias | Institut für Erziehungswissenschaft (IfE) |
Zorn, Sarah Katharina | Professur für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Allgemeine Didaktik und Unterrichtsforschung (Prof. Rothland) |