Praktiken der Erstellung und Verwendung von Erwartungshorizonten bei der Beurteilung von Schüler:innenleistungen?

Grunddaten zum Vortrag

Art des Vortrags: wissenschaftlicher Vortrag
Namen der Vortragenden: Gollub, P., Reckel, L. E. & Kruse, Chr.
Datum des Vortrags: 13.09.2023
Vortragssprache: Deutsch

Informationen zur Veranstaltung

Name der Veranstaltung: Sektionstagung empirische Bildungsforschung der Arbeitsgruppe für Empirische Pädagogische Forschung (AEPF) sowie der Kommission für Bildungsplanung, Bildungsorganisation und Bildungsrecht (KBBB) "Schule und Lehrkräfte. Bildung neu denken"
Ort der Veranstaltung: Potsdam

Zusammenfassung

Leistungsbeurteilung gehört zum Berufsalltag aller Lehrer:innen und erfordert, dass Lehrkräfte zugehörige Prozesse eigenständig planen und durchführen (Sacher, 2011; Winter, 2020). Seit 2010 hat sich eine kriteriengeleitete Beurteilungspraxis etabliert, die zur schlagartigen Verbreitung von Beurteilungsrastern und Erwartungshorizonten (EWH) geführt hat (Winter, 2020). Solche Beurteilungsraster beinhalten zentrale Anforderungen als Erwartungen an die Leistungen der Schüler:innen und firmieren als Artefakt zur Herstellung von Beurteilungstransparenz. Insbesondere einheitliche Prüfungs- und damit auch Beurteilungsanforderungen z. B. durch verbindliche und vorgegebene Beurteilungsraster bei landeseinheitlichen Abiturklausuren oder die Empfehlung (Sek. I) bzw. Vorgabe (Sek. II) in Nordrhein-Westfalen tragen zur Verbreitung von Erwartungshorizonten bei. Die Pflicht einen Erwartungshorizont bei Klausuren beigeben zu können bzw. zu müssen, führt zudem zu einer Weiterentwicklung der Beurteilungspraxis von Lehrkräften (vgl. KMK, 2021). Der Diskurs gibt jedoch kaum Informationen darüber, wie das Instrument des Erwartungshorizontes in der Praxis gestaltet wird und normativ gestaltet werden soll, sondern weist allenfalls allgemeine Gestaltungsprinzipien und Funktionen aus. Exemplarisch können Transparenz oder Zeiteffizienz beim Korrigieren (Paradies et al., 2016) genannt werden. Lehrkräfte haben – abgesehen von eher abstrakten bildungspolitischen Vorgaben – kaum Orientierungspunkte, die sie zur Gestaltung der eigenen Erwartungshorizonte heranziehen können. Ihnen wird somit ein hohes Maß an Autonomie für mess- und bewertungsrelevante Entscheidungen zugestanden (Sacher, 2011), in welche letztlich auch immer die eigene Leistung als Lehrkraft mit einfließt (Kalthoff, 1996). Dabei gilt es, tendenziell abstrahierte Erwartungen in Erwartungshorizonte zu übertragen, ohne dabei auf gesicherte Informationen zu Differenzierungsgraden zurück greifen zu können (Zabka & Stark, 2010; Straßner, 2017; Muth, 2021). Daraus resultiert die Forschungsfrage, wie Lehrkräfte Erwartungshorizonte für die Beurteilung schriftlicher Schüler:innenleistungen erstellen und verwenden. Es wurden sieben leitfadengestützte Expert:inneninterviews (Gräsel & Laudel, 2010) mit Lehrer:innen an Gymnasien und Gesamtschulen durchgeführt, die insbesondere Deutsch sowie geistes- oder gesellschaftswissenschaftliche Fächer unterrichten. Begründet wird diese Auswahl aus fachdidaktischer Perspektive, da Lehrkräfte dieser Fächer aufgrund von vergleichsweise stark offenen Aufgabenformaten und kaum standardisierbaren Lösungsmöglichkeiten Entscheidungen fällen müssen, welche Aspekte Sie in den Bewertungsbogen aufnehmen und wie sie eine Gewichtung derselben vornehmen. Die Auswertung der inhaltlich-semantische nach Dresing und Pehl (2018) transkribierten Interviews mithilfe der inhaltlich strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse (Kuckartz & Rädiker, 2022) zeigt auf, dass Lehrer:innen sich überwiegend an den Operatoren und den Anforderungsbereichen orientieren und ausgehend davon entweder linear vorgehen, indem sie die eigene Bearbeitungen („Musterlösungen“) zu den Klausuraufgaben erstellen und einzelne Aspekte bepunkten oder einzelne Aufgaben fragmentarisch selbst bearbeiten und mithilfe anderer Ressourcen Ergänzendes hineinkopieren. Die Bepunktung einzelner Aufgaben und die Überprüfung der Passung des Instrumentes beschreiben die Lehrkräfte als Ermessensentscheidung oder auch am Bauchgefühl orientiert. Die Gestaltung des EWH ähnelt sich in spezifischen, von den Lehrkräften unabhängig ausgewiesenen, Schritten stark. Daraus lässt sich die Vermutung ableiten, dass die formelle Institutionalisierung von EWHs per kollegialer Abstimmungen, mittels Prozessen der Lehrer:innenbildung oder durch die Verallgemeinerung partieller Vorgaben (z. B. abgeleitet von den Abiturprüfungen) indirekt zu einer Teilstandardisierung des Vorgehens geführt hat. Individualisierte Routinen wären damit bildungspolitisch induzierten Entwicklungen gewichen und hätten zu einer neuen Kontinuität in der Beurteilungspraxis von Lehrkräften geführt. Inwiefern die Verbreitung, Erstellung und Verwendung von EWH allerdings zu einer intendierten Vereinheitlichung oder Standardisierung nicht nur des Umgangs mit den EWH, sondern vielmehr der Beurteilungspraxis selbst führt, wird angesichts der präsentierten Befunde im Vortrag kritisch diskutiert.

Stichwörter: Lehrerbildung, Leistungsbeurteilung, Erwartungshorizonte, Diagnostik