Historische und bildungshistorische Perspektiven auf Inklusion und Heterogenität in Erziehung, Bildung und Schule

Reichert, M., Gollub, P., Greiten, S., Veber, M.

Book (edited collection)

Abstract

Das gesamtgesellschaftliche Konzept der Inklusion hat sich international in den letzten Jahrzehnten als ein zentrales Leitbild in Erziehung, Bildung und Schule etabliert. Sie verfolgt u.a. das Ziel, allen Menschen – unabhängig von ihren individuellen, sozialen oder kulturellen Zugehörigkeiten und Unterschieden – eine gleichberechtigte Teilhabe am Bildungssystem zu ermöglichen. Eine Betrachtung des Transformationsprozesses aus historischer und bildungshistorischer Perspektive zeigt, dass sich die Verwirklichung inklusiver Bildung nicht als linearer Prozess beschreiben lässt. Menschen mit Behinderungen oder Lernschwierigkeiten, soziale Minderheiten und andere von einer normativen Setzung abweichende Gruppen wurden über Jahrhunderte hinweg aus Bildungsprozessen und -systemen ausgeschlossen und teilweise in eigenen Einrichtungen separiert. Zurückgehend bis in die Antike und das Mittelalter waren Menschen mit Beeinträchtigungen oftmals stigmatisiert und sozial ausgegrenzt. Bildung galt per se als Privileg, war einer Elite vorbehalten und nicht allen Menschen zugänglich. Erste Ansätze zur Veränderung entwickelten sich im Kontext sozialer Reformbewegungen der Aufklärung. Die Rechte des Individuums wurden zunehmend betont und im Zuge gesellschaftlicher Veränderungen erweiterte sich die Bildungsteilhabe. Dennoch blieb der Zugang zu Bildung für Menschen aufgrund ihres Geschlechtes, ihrer sozialen Zugehörigkeit oder ihrer individuellen Voraussetzungen weiterhin begrenzt. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert dominierte in vielen Ländern ein segregierendes Bildungssystem. Mehr oder weniger spezialisierte Förderschulen und Heime wurden als Institutionen zur Unterstützung oder Verwahrung für Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen oder besonderen Bedürfnissen etabliert. Die Separation  wurde oftmals mit der Notwendigkeit besonderer Förderung begründet, führte jedoch dazu, dass diese Gruppen dauerhaft aus dem gesellschaftlichen Leben exkludiert wurden. Die Einführung der allgemeinen Schulpflicht in Ländern Europas und Nordamerikas brachte zwar Fortschritte, jedoch blieben inklusionsorientierte Ansätze zunächst eine Randerscheinung. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg und insbesondere im Kontext der internationalen Menschenrechtsbewegungen der 1960er- und 1970er-Jahre gewann die Inklusion an Bedeutung. Die Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948 und die UN-Behindertenrechtskonvention 2006 stellten wichtige Wendepunkte dar, die die Rechte auf Bildung für alle Menschen betonen und erstmals international die Forderung nach inklusiven Bildungssystemen formulierten. Auseinandersetzungen mit den Begriffen der Integration und Inklusion sowie die bildungspolitische Erweiterung des Diskussionsraums von bis dato favorisierten Förderschulsystemen in Regelschulsysteme und Variationen von Berufsbildungsprozessen und Erwerbstätigkeit veränderten die Perspektiven auf Inklusion. Diese Entwicklungen beeinflussten auch die Bildungspolitik in Deutschland und anderen europäischen Ländern erheblich und setzten einen Reformprozess in Gang, der noch immer andauert. Internationale Perspektiven auf Inklusion zeigen deutliche Unterschiede in der Umsetzung. In skandinavischen Ländern wie Schweden und Norwegen wurden schon früh integrative Schulmodelle entwickelt, die als Vorreiter inklusiver Bildung gelten. In den USA führte die Bürgerrechtsbewegung neben der Aufhebung der Rassentrennung auch zu wichtigen rechtlichen Veränderungen, die den Weg für die Integration und spätere Inklusion von Schülerinnen und Schülern mit Beeinträchtigungen ebneten. In Großbritannien wurde die Idee der Inklusion durch umfassende Bildungsreformen unterstützt, die sich auf das Konzept der „Comprehensive Schools“ gründeten und eine verstärkte Berücksichtigung individueller Lernbedürfnisse zum Ziel hatten. Die historische und bildungshistorische Betrachtung zeigt, dass Inklusion als Bildungsprinzip kontinuierlich in Aushandlungsprozessen verortet ist, die u.a. von gesellschaftlichen Wertvorstellungen, politischen Entscheidungen und pädagogischen Konzepten geprägt werden. Inklusion bleibt eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die tiefgreifende strukturelle Veränderungen im Bildungssystem erfordert und als nicht abgeschlossener Prozess zu konstatieren ist. Der gesellschaftliche und wissenschaftliche Diskurs zur Inklusion erfährt insbesondere seit der Salamanca-Erklärung von 1994 und der UN-Behindertenrechtskonvention von 2006 eine argumentative wie inhaltliche und partizipative Öffnung und wird zunehmend nicht mehr nur innerhalb der Sonderpädagogik und Rehabilitationswissenschaft geführt, sondern verstärkt auch in der gesamten Erziehungswissenschaft sowie anderen (angrenzenden) Disziplinen und den Fachdidaktiken. Das inhärente Ziel des Diskurses ist eine angemessene Umsetzung der in den Menschenrechten verbrieften Partizipation aller Mitglieder einer Gesellschaft am gesellschaftlichen Leben. Einen großen Anteil daran haben Aushandlungen für die Bereiche der Erziehung, Bildung und Schule sowie der damit verbundenen Institutionen, Praktiken und Verfahren. Unstrittig ist, dass der Diskurs um Partizipation aller an der Gesellschaft sowie an Bildung älter ist als multinationale Absichtserklärungen und Vereinbarungen. Die Beiträge in diesem Band brechen im Sinne einer Zeitkapsel aus der bildungswissenschaftlichen Perspektive der letzten 25 Jahre aus und eröffnen explizit historische Einsichten. So werden beispielsweise Konzepte, Modelle, Theorien und Entwicklungen aus dem 19. Jahrhundert, frühneuzeitliche und neuzeitliche, aufklärerische und humanistische Verständnisse thematisiert, die sich nach heutigem Verständnis den Diskursen um Heterogenität und Inklusion zuschreiben lassen und eine interdisziplinäre Öffnung des Diskurses zur Inklusion intendieren. Bislang liegen einzelne Studien, Arbeiten und Sammelbände vor, die aus historischer und teils auch bildungshistorischer Perspektive Inklusion thematisieren. Sie sind jedoch mehrheitlich disziplinär in der Erziehungswissenschaft, den Fachwissenschaften und den zugehörigen Fachdidaktiken verortet. Der Band zielt auf die Sprengung dieser „Grenzen“ ab, um Inklusion und Heterogenität aus historischer und bildungshistorischer Perspektive trans-, inter- und intradisziplinär zu beleuchten, um diesen – trotz partiell vorliegender aktueller Forschungsergebnisse sowie einzelner zur Thematik zu verzeichnender Forschungsprojekte – bislang eher randständig betrachteten historischen Diskursabschnitt zu würdigen.

Details about the publication

Publishing companyVerlag Julius Klinkhardt
Place of publicationBad Heilbrunn
Title of seriesHeterogenität aus schulpraktischer Perspektive
Volume of series4
Statusaccepted / in press (not yet published)
Release year2025
Language in which the publication is writtenGerman
KeywordsInklusion; Heterogenität; Bildungsgeschichte; Erziehung; Bildung; Schule

Editors from the University of Münster

Gollub, Patrick
Institute of Educational Sciences (IfE)
Professorship for educational sciences with the focus on didactics and teaching research