Thünemann, Holger; Wagner, Hellen
Forschungsartikel (Zeitschrift) | Peer reviewedGeschichtsbewusstsein, Geschichtskultur und Public History haben offenbar Konjunktur, und zwar ebenso als Phänomene menschlicher Lebenspraxis wie als Gegenstände und Kategorien wissenschaftlicher Forschung. [...] Als Wissenschaft, die sich mit dem Wandel geschichtsbezogener Vorstellungen, geschichtskultureller Formen und historischer Lehr-Lernprozesse in gesellschaftlichen Kontexten befasst, hat die Geschichtsdidak-tik ihr Kategoriengefüge seit den 1970er Jahren zwar aus guten Gründen erheblich erweitert – Beispiele dafür sind etwa Heterogenität und Diversität –, aber im Kern keiner fundamentalen Revision unterzogen. [...] Ange-sichts dessen könnte man einerseits traditional argumentieren und versucht sein, eine quasi ungetrübte kate-goriale Erfolgsgeschichte der eigenen Disziplin zu entwerfen und in die Zukunft fortzuschreiben. Andererseits würde das jedoch bedeuten, kritische Stimmen zu ignorieren, die danach gefragt haben, ob es nicht an der Zeit sei, Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur zur Disposition zu stellen – entweder weil diese Begriffe »Leer-formeln« seien oder sich empirisch nicht überzeugend operationalisieren ließen oder weil sie mit problematischen normativen Implikationen angeblich derart aufgeladen seien, dass man sie, wie beispielsweise Bärbel Völkel meint, als völlig unzeitgemäß und »ethnozentrisch« endlich verabschieden müsse. Wir möchten hier auf diese Kritik nicht im Einzelnen eingehen, sondern stattdessen eine dritte Option zur Diskussion zu stellen. Denn es gibt, um bei den gerade bereits implizit eingeführten Rüsenschen Sinn-bildungstypen zu bleiben, nicht nur die Möglichkeit, an mehr oder weniger langen Traditionen unverändert festzuhalten oder im kritischen Modus des Paradigmenwechsels grundsätzlich mit ihnen zu brechen. Vielmehr ist es ebenso möglich und vermutlich auch wesentlich überzeugender, Geschichtsbewusstsein und Ge-schichtskultur als geschichtsdidaktische Grundbegriffe einerseits zu historisieren und sie andererseits theoretisch zu modernisieren und weiterzuentwickeln.
Thünemann, Holger | Professur für Didaktik der Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Geschichtskultur (Prof. Thünemann) |