Der erzählte Tag als Teufelskreis. Entwürfe der Zukunftslosigkeit bei Solženicyn (Odin den’ Ivana Denisoviča, 1962) und Sorokin (Den’ opričnika, 2006)
Basic data for this talk
Type of talk: scientific talk
Name der Vortragenden: Peschanskyi, Valentin
Date of talk: 04/02/2022
Talk language: German
Information about the event
Name of the event: 1. Osteuropa-Treffen NRW, Zukunftsvisionen in Osteuropa
Event location: Ruhr-Universität Bochum
Abstract
Der Tag als (nicht nur) erzählte Zeitform ist in mehrfacher Hinsicht doppelgesichtig. Einerseits steht er für die Alltagsroutine, die Wiederholung der immergleichen Abläufe, die er exemplarisch verdichtet; andererseits kann er das absolute Gegenteil, den Um- oder Aufbruch, die Revolution, den Neuanfang oder umgekehrt das Ende bedeuten. Als einem der Natur entlehntes Zeitmaß dient er seit jeher zur Strukturierung der kulturellen Tätigkeit des Menschen. In ihm begegnen sich aber nicht nur Natur und Kultur, sondern, etwas weitergedacht, auch das irdische Treiben und der Kosmos, die Banalität und das Unbegreifliche. Schließlich ist der Tag zugleich linear und zyklisch: Er hat einen Anfang und ein Ende, das aber wiederum zum Anfang zurückführt. Dadurch eignet er sich nicht nur als Modell mythischer wie eschatologischer Zeitkonzepte, sondern auch als metaphorische Verdichtung größerer Zeitformen - man denke nur an die etwas abgegriffene Gleichsetzung der Tagezeiten mit dem Jahreszeitenzyklus und mit dem Lebensweg eines Menschen. Es verwundert nicht, dass der Tag in dieser seiner Bedeutungsbreite ein beliebter Zeitrahmen der erzählenden Künste ist, und das auch noch lange nach der Zeit, in der Aristoteles' Vorschlag, die Tragödienhandlung „nach Möglichkeit innerhalb eines einzigen Sonnenumlaufs" (Aristoteles, Poetik, 1449b) zu halten, als Doktrin ausgelegt wurde. Während aber die meisten Nationalliteraturen das volle Bedeutungsspektrum des Tages ausschöpfen, tendiert die russische dazu, den Tag als zeitliche Metapher des Stillstands zu inszenieren. Die erzählten Tage diagnostizieren eine heillose Vergangenheitsobsession, sei es etwa mit der eigenen Geschichte oder Kunst, die das Land und dessen Bewohner zur Wiederholung desselben Tages verleitet, für den es kein Morgen gibt. In meinem Vortrag will ich diese Tendenz an zwei besonders anschaulichen Beispielen aufzeigen, Solženicyns Ein Tag des Iwan Denissowitsch (Odin den' Ivana Denisoviča, 1962) und Sorokins Der Tag des Opritschniks (Den' opričnika, 2006). Obwohl die beiden Texte unter vollkommen unterschiedlichen Bedingungen entstanden sind, stellen sie einmal aus Opfer-, einmal aus der Täterperspektive die gleiche dystopische Diagnose, und zwar, dass Russland der Zeit Ivan IV. verhaftet geblieben ist und darum auf ewig ein durch Terror und Gewalt geprägter, lagerartiger Heterotopos bleiben wird.
Speakers from the University of Münster