Das falsch vermessene Kunstwerk. Zur kunstgeographischen Bestimmung stilistischer Stetigkeit im zeitlichen Wandel, wissenschaftsgeschichtlich nach den Quellen dargestelltOpen Access

Bormann Ralf

Thesis (doctoral or post-doctoral)

Abstract

Die Kunstgeographie hat derzeit in der deutschen Kunsthistoriographie einen schweren Stand. Ihre methodische Annahme eines Raumstiles machte sie vordergründig mit den exaltierten Raumphantasien der Nationalsozialisten gemein. Diese bis in die Gegenwart anhaltende Perhorreszenz freilich verkennt, daß die Vorstellung eines Zusammenspiels landschaftlichen Wesens und eines daraus emergierenden sittlichen wie künstlerischen Geschehens, die Vorstellung mithin einer »Daseinsursprünglichkeit überindividueller Zusammenhänge« (Thomas Mann) auf die Antike zurückgeht und sich auf vielerlei Fachgebieten bis in die Moderne durchgehalten hat. Um die Gründe gleichermaßen des Bedeutungsverlustes wie der methodologisch gebotenen Repristination des kunstgeographischen Gedankens herauszustellen, wird im Teil A der Dissertation zur »Vorbereitung der Grundlagen« der »ideengeschichtliche Rahmen der Kunstgeographie« aufgespannt (pp. 3-227). Es zeigt sich darin, daß analog zur Rezeptionsgeschichte des antiken Mythos des Antaios die Kunstgeographie einen Bedeutungswandel erfahren hat dergestalt, von einer ursprünglich ontologisch-phänomenologisch unternommenen Aufweisung des räumlichen Auftritts von Kunstwerken kommend nur mehr in dem Versuch zu mißraten, die räumliche Verteilung solcher Kunstvorkommnisse reduktionistisch einer vermeintlich rekurrenten Ordnung zu unterwerfen. Die stilkritische Periodisierung der Kunstwerke allein nach ihrem mutmaßlichen Auftrittspunkt in der Zeit führt zudem zu der mehr oder minder bewußt gemachten Annahme von Stilwellen, welche ohne die Beantwortung eines ontologisch-hermeneutisch befragbaren Ursprungs der Kunstäußerung auszukommen respektive sich mit einer entleerten »Einflußkunstgeschichte« (Julius von Schlosser) behelfen zu können vermeint. Eine solche Kunstgeographie, die in der Dissertationsschrift eine vulgäre genannt wird, fragt demnach, »wodurch [...] das Dasein die Einheit des Zusammenhangs für eine nachträgliche Verkettung der erfolgten und erfolgenden Abfolge der ›Erlebnisse‹« gewinne, mutet mithin den Kunstwerken von außen gewisse angeblich milieubedingte Eigenschaften an; vielmehr aber stellt sich die in der Dissertationsschrift demgegenüber herausgearbeitete, wohlzuverstehende Kunstgeographie die Frage, »in welcher Seinsart seiner selbst« das Dasein sich überhaupt erst verliere, »daß es sich gleichsam erst nachträglich aus der Zerstreuung zusammenholen und für das Zusammen eine umgreifende Einheit sich erdenken muß?« (Martin Heidegger, Sein und Zeit, 1927). Eine wohlzuverstehende Kunstgeographie sucht somit der »Seinsvergessenheit« entgegenzuwirken respektive diese zu überwinden; in dieser Weise begreift sich die wohlzuverstehende Kunstgeographie, in der Zeitgenossenschaft des lyrischen und dichtungstheoretischen Werkes Stefan Georges, Rainer Maria Rilkes und Hugo von Hofmannsthals, als ein Bollwerk gegen den positivistischen »Wahn, es sei alles erklärt, wenn man das Wesentliche verschweige« (Wilhelm Pinder). Der Teil B enthält in drei Kapiteln eine »Sammlung der Grundlagen« kunstgeographischer Forschungen. Das erste Kapitel bietet im quellennahen Überblick »Das kunstgeographische Schrifttum und seine Vorläufer« (pp. 231-468), begonnen bei den einschlägigen antiken Autoren bis zur Kontroverse Reiner Haussherrs, Paul Piepers und Hans Erich Kubachs in den 1960er bis 80er Jahren. Kapitel 2 »›Zum Raum wird hier die Zeit‹ - Der Begriff von Raum und Zukunft« (pp. 469-511) verschafft die dringend erforderliche Differenzierung der verschiedenen den kunstgeographischen Ansätzen zugrundeliegenden Raumbegriffe, deren tragfähigsten - auch vor der zeitgenössischen Feststellung Albert Einsteins, wonach die Zeit nur mehr eine Funktion des Raumes sei - bei Henri Bergson und Martin Heidegger aufgewiesen werden können. Kapitel 3 widmet sich den »Aspekten der Landschaft« (pp. 513-80), aus denen sich die kunstgeographische Annahme von Kunstlandschaften speist. Die in Teil C gegebene, abschließende »Deutung der Grundlagen« greift in ihrer in zwei Kapitel unterfallenden Analyse des kunstgeographischen Gedankens auf die Stoffsammlung des Teiles B zurück (die Lektüre von Teil C mag auch wahlweise der des Teiles B vorausgehen). Kapitel 1 (pp. 583-621) erfaßt nach dem auf Adam Ferguson und Adam Smith zurückgehenden ökonomischen Modell Friedrich August von Hayeks »Kunstlandschaften als Ergebnisse menschlichen Handelns, aber nicht menschlichen Entwurfs«, und »Raumstile als unbewußte Regelfolgen vorausgeworfener Geleise« im Sinne Ludwig Wittgensteins. Die durch Erwin Panofsky inspirierte Lehre Pierre Bourdieus vom Habitus, dem als »histoire incorporée, faite nature, et par là oubliée en tant que telle, [...] la présence agissante de tout le passé dont il est le produit« in den Kunstwerken zukommt, läßt sich gleichermaßen als eine Wissenschaft raumstilistisch unterscheidbarer Phänomene erweisen. Kapitel 2 »Der Umkreis des im Zeugganzen umsichtig zunächst Zuhandenen - Martin Heideggers Ursprung des Kunstwerkes als Begriff existenzialer Kunstlandschaft« (pp. 623-58) schließlich dringt mit dem fundamentalontologischen Rüstzeug Heideggers in den Kern kunstgeographischen Denkens vor. Insbesondere Heideggers Hauptwerk »Sein und Zeit« von 1927 und seine Vortragsreihe zum »Ursprung des Kunstwerkes« (1935/36) erweisen die deutsche kunstgeographische Forschung der 1920er und 30er Jahre (Dagobert Frey, Paul Pieper, Hans Erich Kubach u.v.m.; cf. schon Alois Riegl, Max Dvořák) als eine phänomenologisch-hermeneutische Wissenschaft, der es um die Aufzeigung einer sich in den Kunstwerken aussprechenden »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« (Wilhelm Pinder) im Kunstgeschehen angelegen ist. Es ist demnach die Zeit, in der das Sein der Kunstwerke sich in seine vom Kunsthistoriker hermeneutisch erkundbare, historische Wahrheit setzt (cf. auch »The shape of time« von George Kubler, 1962), und es sind die Räume, in denen der Kunsthistoriker die Werke phänomenologisch ausfindig macht. Die Kunstlandschaft ist dergestalt als ein δαιμόνιος τόπος aufzufassen, mithin als »ein Wo, in dessen Plätze und Gänge das Un-geheure eigens hereinscheint und das Wesen des Seins in einem ausgezeichneten Sinne west.«

Details about the publication

Place of publicationMünster in Westfalen
StatusPublished
Release year2010
Language in which the publication is writtenGerman
Type of thesisDissertation thesis
University of graduationWestfälische Wilhelms-Universität Münster
Graduation year2011
Link to the full texthttp://miami.uni-muenster.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-6011/diss_bormann.pdf
KeywordsKunstgeographie; Kunstlandschaft; Kunsthistoriographie; Heidegger; Ontologie; Habitus; Raumstil

Authors from the University of Münster

Bormann, Ralf
FB08 - Faculty of History and Philosophy (FB08)

Promotionen, aus denen die Publikation resultiert

Das falsch vermessene Kunstwerk. Zur kunstgeographischen Bestimmung stilistischer Stetigkeit im zeitlichen Wandel, wissenschaftsgeschichtlich nach den Quellen…
Candidate: Bormann, Ralf | Supervisors: Jacobsen, Werner
Period of time: 01/10/2007 - 06/05/2011
Doctoral examination procedure finished at: Doctoral examination procedure at University of Münster