Bracht Johannes
Fachbuch (Monographie) | Peer reviewedUntersucht werden Vermögensstrategien der ländlichen Bevölkerung in Lebenslauf und Familienzyklus im Zusammenhang mit zwei externen Faktoren: der institutionellen Entwicklung von Kreditmärkten und den Impulsen der Agrarreformen. Im Detail analysiert werden Geldflüsse in Form von familialen Transfers, Hypothekenkrediten, Sparguthaben, Sparkassenkrediten und Landkäufen und -verkäufen. Dies geschieht jeweils für drei westfälische Orte (Borgeln in der Soester Börde, Löhne in Ostwestfalen, Oberkirchen im Hochsauerland) für den Zeitraum 1830 bis 1866, teilweise darüber hinaus. Quellengrundlage für Kredite und Landtransaktionen sind die Grundbücher des 19. Jahrhunderts. Kredit- und Sparkontenverläufe für den Ort Borgeln wurden anhand der Journale der Sparkasse Soest rekonstruiert. Weitere Datengrundlage waren die Familienrekonstitutionen aller drei Untersuchungsorte. Die Arbeit liefert v.a. Beiträge (1) zur Erklärung des Funktionierens von Kreditmärkten in einer Phase des ersten Auftretens von Finanzintermediären und „modernen" Finanzprodukten, wobei gerade die Wirkung des institutionellen Sparens auf den Privatkredit thematisiert wird, und (2) der individuellen Nutzung des Sparbuchs für betriebliche oder familiäre Zwecke, wobei unter dem Aspekt der Nutzenmaximierung die verschiedenen Anlageformen miteinander verglichen werden. Hintergrund aller Problemstellungen ist die Frage nach dem Beginn und Verlauf des Übergang zur Marktgesellschaft im Bereich der Finanztransaktionen. (1) Ein zentrales Ergebnis der Arbeit ist, dass bis in die 1860er Jahre hinein von einer Transformation der Kreditmärkte im Sinne immer wichtiger werdender Institute nicht die Rede sein kann. Private Geldgeber dominierten weiterhin den Kreditmarkt und konnten ihr Kapitalangebot kontinuierlich ausdehnen. Eine Verdrängung durch Banken (v.a. die Sparkasse) fand nicht statt. Das untersuchte Institut selbst, die Sparkasse Soest, strebte an, den Marktanteil auszudehnen, litt sie doch unter einem erheblichen Kapitalüberschuss. Die Analyse zeigte eine bisher der Forschung unbekannte Unternehmensstrategie: In Jahren großen Kapitalüberschusses wurden ungesicherte Kredite vor allem an Kunden vergeben, mit denen bereits Geschäfte gemacht worden waren und die als wirtschaftlich begünstigt gelten konnten. Die Soester Sparkasse hatte also schon früh die Bedeutung persönlicher Kundenbindung erkannt und vor allem den eigenen Informationsschatz genutzt. Größeren Raum nehmen in der Untersuchung die Grundlastenablösungen der „Bauernbefreiung" ein. So waren die Ablösungen in allen drei Orten fast ausschließlich über Kreditaufnahme finanziert worden, die strukturellen Bedingungen der Gemeinden aber waren sehr unterschiedlich. In Borgeln trafen leistungsfähige Betriebe auf ein überreiches, privates Kapitalangebot, so dass hier trotz hoher Lasten schnell abgelöst werden konnte. Dies drückt sich unter anderem darin aus, dass die Borgeler schon 1853, drei Jahre nach Beginn der Ablösewelle, wieder Nettosparer (Summe aller Einzahlungen höher als Summe aller Abhebungen) waren und die Einzahlungen bei der Sparkasse bereits 1855 einen neuen Höhepunkt erreichten. In den anderen beiden Orten hatten die Bauern größere Mühen, die nötigen finanziellen Mittel aufzubringen. In Oberkirchen und Löhne, wo Sparkassen Mitte des 19. Jahrhunderts noch nicht bzw. gerade erst Fuß gefasst hatten, wurden etwa 50% der Grundlasten (monetäre Volumina) mit Hilfe der eigens eingerichteten staatlichen Ablösebank abgelöst. Diese beiden Gemeinden litten also in dieser kapitalintensiven Phase durchaus unter Kreditmangel. Hier wird erstens deutlich, dass sich in Westfalen noch kein integrierter Kreditmarkt abzeichnete, denn das Überangebot an Kredit in der Hellwegregion fand den Weg in das nahe gelegene Sauerland nicht - anders als die landwirtschaftlichen Produkte, die schon lange dorthin exportiert wurden. Zweitens bildet der Zusammenhang von prosperierender Landwirtschaft, wohlhabender Bürgerschaft in der nahen Stadt und der frühen Sparkassengründung, hier repräsentiert durch den Ort Borgeln, eine wichtige Hypothese für die weitere Forschung. Für die Agrargeschichte ist dabei besonders relevant, dass genau wegen dieser Bedingungen hier die Bauernbefreiung weitgehend durch Privatkredit finanziert wurde, und nicht mit staatlichen Annuitätendarlehn, die von der bisherigen Forschung als entscheidende Innovation gesehen wurden. (2) Durch die Auswertung von Sparkassenjournalen konnte erstmals eine Analyse von Vermögensstrategien von Bauern und anderen Bewohnern einer ländlichen Gemeinde (Borgeln) geleistet werden. Damit konnte Zugang zu einem wesentlichen Teil der Geschäftsentwicklung gewonnen werden, denn ein hoher Anteil der Einlagen der Soester Sparkasse insgesamt stammte aus dem ländlichen Bereich. Sparbücher wurden genutzt, um zielgerichtet Vermögen aufzubauen. Lebenszyklische Motive (Kinderphase, Altersversorgung, „Lebenszyklus-Hypothese") spielten im Sparverhalten nur untergeordnete Rollen. Allerdings entwickelte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine Praxis, Sparguthaben als zusätzliche Finanzpolster im Alter zu sichern und bei Überschreibungen aus der Vermögensmasse herauszunehmen. Dies ist als beginnende Individualisierung der Sparguthaben zu werten. Auch fand sich in Unterschichten die Praxis, sich im Alter mit Sparguthaben eine „Leibzucht", also die traditionelle ländliche Altersversorgung in Form eines Altenteils, zu erkaufen. So verschmolzen moderne individuelle Vermögensbildung und traditionelle familienzyklische Instrumente miteinander. Es zeigt sich insgesamt, dass der Übergang zur Marktgesellschaft zunächst auf Märkte für landwirtschaftliche und gewerbliche Erzeugnisse sowie Arbeitsmärkte für unterbäuerliche Haushalte begrenzt blieb. Zentrale Ziele der Finanzstrategien von Bauern waren (nach wie vor?) die Ausstattung von Kindern und die eigene Altersversorgung über Ansprüche an den Hof. Hier wurde die Sparkasse als Finanzintermediär eingesetzt, um intergenerationelle und familienzyklische Momente wie die Haushaltsgründung und die Altersversorgung individuell zu unterstützen, nicht aber auf eine gänzlich neue Grundlage zu stellen. Wohl aber wurde die Bank genutzt, um Einkommensbestandteile für Landkäufe zurückzulegen. Da mit Land unter den gegebenen Möglichkeiten die höchste Rendite erwirtschaften ließ, es aber nur selten zum Verkauf stand, nahm das Sparguthaben eine Funktion innerhalb von Strategien der ökonomischen Nutzenmaximierung ein. Das Aufzeigen solcher Ungleichzeitigkeiten stellt eine wichtige Grundlage für das Verständnis des spannungsvollen Übergangs zur Marktgesellschaft in den ländlichen Gebieten Deutschlands dar.
Bracht, Johannes | Historisches Seminar |