Das Sprichwort lex credendi lex orandi (oder umgekehrt) findet sich in Texten, die Liturgie erklären oder ihre Konstruktion legitimieren. Das Projekt zeigt, dass dieses Sprichwort in seiner gegenwärtigen Verwendung evident ist, insofern Gebet auf Glauben schließen lässt. Wo das Sprichwort als Prinzip der Analyse von Liturgien herangezogen wird, zerstört es jedoch Präzision, wo Präzision aufgrund der Struktur der Daten möglich ist, lädt ein, Unstimmigkeiten durch stumpfe Methoden zu vertuschen, und suggeriert Evidenz, wo genauer nachgefragt werden kann. Die im Folgenden zu begründende These lautet: Lex credendi lex orandi hat keine Funktion in der Metasprache liturgiewissenschaftlicher Untersuchungen. Solange nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil Elemente der Liturgie neu konzipiert wurden, spielte lex credendi lex orandi eine wichtige Rolle in der Praxis. Die damals konstruierte Liturgie ist theologisch korrekt. Da heute kaum noch in dieser Weise offizielle Liturgie entwickelt wird, sind diese Epoche und ihre wichtigsten Methoden Vergangenheit. Das Sprichwort ist heute vor allem in einer erweiterten Deutung für die wissenschaftliche Arbeit interessant, nämlich als Kurzformel dafür, dass oder wie die Analyse der Liturgie korrekte Theologie ans Licht bringt. An diesem Verständnis ist das Projekt interessiert. Paul de Clerck eröffnet seine Besprechung der Problematik des Sprichworts mit der Frage nach dem Genitiv in lex orandi (une loi de la liturgie). Wird die Liturgie von jener lex regiert, oder wird die lex erst aus der Liturgie, die über ihr steht, gewonnen? Die Antwort (die de Clerck nicht in dieser Form gibt) hat in der Praxis zwei Teile. Die Liturgie muss sich erstens an die vorgegebenen leges halten, damit sich zweitens sagen lässt, dass die leges, die sie normieren, aus der Liturgie entstanden sind und zu Recht an der Würde der Liturgie partizipieren. Lex credendi lex orandi beschreibt dann die Struktur einer zirkulären Apologie für die Normativität der jeweils faktischen Gestalt der Liturgie. Diese Verwendung des Sprichworts dient der liturgiewissenschaftlichen Arbeit ebenfalls nicht. Die Analysen von Paul de Clerck zeigen, dass die im gegenwärtigen Beitrag vorausgesetzte Verwendung des Sprichworts seinem ursprünglichen Kontext nicht entspricht. Prosper von Aquitanien, in dessen Werk(en) sich die Vorlage für das Sprichwort findet, meint, dass die Bibel (Tim 2,1-2) es der Kirche vorschreibt (lex), darum zu beten (supplicare), dass allen Menschen die Gnade gewährt wird, zum Glauben zu kommen. Oberflächlich gelesen entscheidet bei Prosper das christliche Beten in einer theologischen Streitfrage neben anderen Argumenten. Die Autorität der Liturgie selbst ist aber sekundär und ergibt sich aus einem zu diesem Zweck leicht gebeugten Verständnis der Bibel. Prosper spricht von einem liturgischen Brauch, der in der ganzen Kirche immer so gehalten wurde und auf die Bibel gegründet ist. Auch wenn der Inhalt der liturgischen Texte in seiner Argumentation wichtig ist, so erhält er seine Überzeugungskraft nur aus seiner Verbindung mit der Bibel und daraus, dass er immer und überall so gehalten wurde. Es kann keine Rede davon sein, dass „Liturgie" oder liturgischer Text als solcher eine Argumentationsbasis in einem doktrinären Streitfall darstellt. Das Verfahren ist außerdem formal nicht auf andere Fälle zu übertragen. In der Bibel lässt sich darüber hinaus zur Legitimation von recht viel ein mehr oder weniger passender Vers finden. Weil sich jedoch für viele Ritualelemente und Texte in der Geschichte der Liturgie und in ihrer ökumenischen Breite Alternativen oder zumindest Epochen finden lassen, in denen ein strittiges Element noch nicht existierte, kann ein sensus fidelium der „Universalkirche" zu einer halbwegs relevanten Detailfrage kaum empirisch aus der liturgischen Praxis erhoben werden. Jede wissenschaftliche Untersuchung führt im Gegenteil mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu, dass eine Behauptung über ein „Immer und Überall" eines Ritualelements widerlegt wird oder nicht plausibel gemacht werden kann.
Leonhard, Clemens | Professur für Liturgiewissenschaft (Prof. Leonhard) |