In den letzten Jahren hat bereits erneut eine intensive Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust in der Schule eingesetzt. Besonders im Bereich des Geschichtsunterrichtes und der politischen Bildung sind maßgebliche Überlegungen angestellt worden. Gleiches lässt sich vom Deutschunterricht und seinen Aufgaben jedoch nicht beobachten. Der Anlass dieser Tagung setzt an diesem Umstand an und soll die vorhandenen Defizite bearbeiten. Es ist unbedingt davon auszugehen, dass gerade für den Literaturunterricht in den Schulen neue Konzepte und didaktische Überlegungen angestellt werden müssen, um der dramatisch nachlassenden literarischen Bildung über die Komplexe Antisemitismus, Nationalsozialismus und Shoah heute zu begegnen. Gerade der Literaturunterricht steht hierbei vor Problemen, die dringend einer theoretischen, konzeptionellen und auch unterrichtspraktischen Innovation bedürfen. Der immer häufiger von Schülern zu vernehmende Überdruss an der schulischen Beschäftigung mit dem Holocaust sollte daher sowohl Lehrer, Fachdidaktiker als auch die demokratische, um Erinnerungskultur und kollektives Gedächtnis besorgte Öffentlichkeit alarmieren. Auf der anderen Seite scheint aber auch das im Alltag durchaus wahrnehmbare subjektive Wissensinteresse junger Menschen an Auschwitz und dem Genozid den Verdrusssymptomen zu widersprechen. Es gilt daher, diese Problemkonstellation aufzuklären, kritisch zu bilanzieren und verstärkt über neue Impulse und Konzepte nachzudenken, die den heutigen Anforderungen angemessen sind und vor allem die kulturell-literarischen Möglichkeiten des Deutschunterrichts betonen. Die Tagung stellt sich in dieser Hinsicht das Ziel, Experten aus Schule, Wissenschaft und Pädagogik zu einem Wissens- und Erfahrungsaustausch zusammenzuführen, um hierbei zentral folgende Teilbereiche intensiv zu erörtern. Angesprochen werden sollen Lehrer, Fachwissenschaftler, Studierende und die interessierte Öffentlichkeit. Aus wissenschaftlicher Sicht gilt es heute u. a. innovative Impulse für die theoretische Begründung einer inzwischen weitgehend ermatteten und redundanten schulischen Holocaust-Didaktik im Fach Deutsch zu entwickeln; die genuine Relevanz ästhetischer Gegenstände (Literatur, Medien etc.) im heuristischen Feld einer Ästhetik der Erinnerung zu erkunden und danach zu fragen, ob das kulturpolitische Dispositiv Erinnern und Gedenken überhaupt ein valides Kriterium für eine gehaltvolle Literaturdidaktik sein kann; Möglichkeiten einer »Ethik der Erinnerung« (Margalit) im didaktischen Feld zu reflektieren und gezielt nach dem Erkenntnisdesiderat zu fragen, welche empirischen Zusammenhänge zwischen Literaturaneignung und moralischer Genese bei Junglesern überhaupt bestehen und zu beschreiben sind; neue Impulse zu geben für Aneignungs- und Beschäftigungsformen mit dem Holocaust in der Literatur, die nicht mehr auf erzwungene Mimesis der Schüler und pädagogisch ritualisierte Betroffenheitsaffekte setzt, die zu bedrohlichen und kontraproduktiven Abwehrreaktionen bei Schülern geführt haben und das vehemente Interesse konterkarieren, sondern auf wissensgestützte Suchbewegungen im literarisch-medialen Feld der Literatur; Kritik an jenen Didaktikfetischen und Unterrichtsinszenierungen zu leisten, die von einem naiven und theoriefeindlichen pädagogischen Erlebniskonzept ausgehen und den Literaturunterricht als willkürliche Krypto-Geschichtsdidaktik unverantwortlich verzerren; die originäre Leistung von Literatur und den notwendigen methodischen Praxisformen in der Schule in eine wissenschaftswürdige kulturtheoretische Reflexion einzubinden, die sowohl auf der Höhe zeitgenössischer Kulturkritik ist als auch die veränderten Sozialisationsbedingungen und Rezeptionshaltungen der Spaßgesellschaft zum Ausgangspunkt für eine politisch motivierte und wache Erziehung nach/über Auschwitz unter veränderten Gesellschaftsbedingungen berücksichtigt; in unterrichtspraktischer Perspektive müssen die Anschlussstellen sichtbar werden, an denen gehaltvolle Unterrichtsentwürfe und Schulmaterialien für einen »anderen« Deutschunterricht zum Holocaust praktisch entstehen sollen; an einem zukunftsfähigen und innovativen Holocaustcurriculum für den Literaturunterricht in allen Schulstufen zu arbeiten, das sich auf der Höhe der Theorie und auf der Höhe der gegenwärtig verfügbaren Holocaustliteratur (vom Bilderbuch bis zum autobiographischen Roman) befindet. Es scheint derzeit dringend geboten, die Kompetenzen der einzelnen Arbeitsgebiete miteinander zu vernetzen und an zukunftsfähigen Arbeitsmaterialien für den Unterricht von der Grundschule bis zur Sekundarstufe zu arbeiten. Ausgehend von einem Tagungsband, den ich herausgeben werde, sollen in den nächsten Jahren weitere didaktische Handreichungen erstellt werden, die vor allem den veränderten Literatur- und Medienangeboten der letzten zehn Jahre, aber auch den veränderten Interessenlagen und Lernbedingungen heutiger Schüler Rechnung tragen sollen. Unter den Bedingungen eines dramatischen Wissensverlustes unter Jugendlichen über die jüngste Geschichte, des neuen diffusen Antisemitismus in Europa, der neonationalistischen Ideologien zur ultimativen Vergangenheitsentsorgung sowie der zunehmend wachsenden historischen Distanz junger Generationen zum Zivilisationsbruch Auschwitz ist es unerlässlich, intensiv über neue Antworten nachzudenken, welche Aufgaben und Ziele der Deutschunterricht überhaupt vertreten kann und soll, will er nicht zu einem Stellvertreter für politische Bildung degenerieren. In Zeiten instabiler kultureller Identitäten und dramatisch erodierender Bildungskompetenzen scheint es diesbezüglich angeraten, die Bedeutung von ästhetischer Erziehung, literarischer Bildung und textvermittelter Sinnorientierung für die Erinnerungsbereitschaft junger Menschen nicht zu unterschätzen. Vom Gelingen literarischer Bildung hängt nicht unerheblich die Befähigung ab, am kollektiven Gedächtnis überhaupt teilzunehmen zu können. Wie sollte ein Deutschunterricht angelegt sein, der diesen veränderten Anforderungen angemessen Rechnung tragen kann?
Birkmeyer, Jens | Germanistisches Institut - Abteilung: Literatur- und Mediendidaktik |