1. Zielsetzung der Tagung Zentrales Thema dieses Tagungsprojektes soll die Frage danach sein, welchen Stellenwert Kritik in der gegenwärtigen Deutschlehrerausbildung einnimmt und welche Funktion ihr im Hinblick auf das relevante Fachwissen heute überhaupt zukommt. Gerade in einer Zeit, in der von außen herangetragene funktionale Imperative immer stärker danach verlangen, Wissen nach externen Kriterien der Nützlichkeit und Verwertbarkeit statt an der Bildungsrelevanz der Gegenstände selbst auszurichten, möchten wir das Verhältnis von Wissen und Kritik thematisieren. In der akademischen Deutschlehrerausbildung gilt es in besonderem Maße sowohl sprachwissenschaftliche als auch literatur- und medienwissenschaftliche Fachgebiete als Wissensverbund zu denken und zu praktizieren. Dies verlangt nach einer fachlichen Kooperation, die jedoch im universitären Milieu häufig sträflich vernachlässigt wird, während der Deutschlehrer die komplexen arbeitsteilig getrennten Wissensbereiche in der schulischen Praxis wieder synthetisieren muss. Die geplante Tagung ist deshalb daran interessiert, Sprach- und Literaturwissenschaftler zusammenzuführen, um über Perspektiven einer integrativen und kooperativen germanistischen Deutschlehrerausbildung nachzudenken. Es soll nicht bloß um eine Bestandsaufnahme derzeitiger Germanistikausbildung gehen, sondern gezielt darum, Perspektiven aufzuzeigen, wie eine an fachwissenschaftlicher Autonomie und Fachkooperation ausgerichtete Deutschlehrerausbildung in Einklang gebracht werden kann mit den Entwicklungen der Fachdisziplinen. Dies soll vor allem unter dem Aspekt geschehen, keine didaktischen Verkürzungen der Wissensbestände oder fragwürdige didaktisierende Legitimationen von Fachwissenschaft vorzunehmen. Es soll vielmehr darum gehen, zu prüfen, ob nicht der inzwischen recht vernachlässigte und entwertete Modus der Kritik aktualisiert und revitalisiert werden muss. Es ist ein maßgebliches Ziel dieser Tagung, anhand ausgewählter Bereiche aus den Wissensdomänen der germanistischen Lehrerausbildung die Konturen des Begriffs der Kritik neu zu beleuchten. Dies soll sowohl in methodischer, erkenntnistheoretischer als auch wissenspraktischer Hinsicht geschehen. Im Hinblick auf die neu begonnene intensive Forschungsdiskussion über die Bedeutung, Relevanz und Genese von Kritik besonders in den Sozialwissenschaften und in der Sozialphilosophie soll die Tagung sich mit dem zentralen Problem befassen, ob und wie ein zugleich theoretisch gehaltvoller wie praktisch nutzbringender Begriff von Kritik so in die germanistische Lehrerausbildung eingebracht werden kann, dass die gegenwärtigen Probleme der Wissensaneignung produktiv bearbeitet werden können. Im Bereich der Sprachwissenschaft und der Sprachdidaktik kann diesbezüglich in jüngster Zeit eine solche Revitalisierung des Kritikbegriffs im Bereich der (didaktischen) Sprachkritik sowie der Kritischen Diskursanalyse beobachtet werden, die u.a. beflügelt wurde durch die Gründung der fachwissenschaftlichen Zeitschrift ‚Aptum’ zur linguistischen Sprachkritik sowie durch aktuelle Publikationen zur linguistischen, didaktischen Sprachkritik und Kritischen Diskursanalyse. Im Bereich literatur- und medienwissenschaftlicher Reflexion spielt vor allem jene kritische Dimension eine zentrale Rolle, die dazu befähigt mit den kulturellen Zeugnissen und ihren jeweiligen realitätsüberschreitenden Perspektivierungen den Möglichkeitssinn der Kunst sowohl als Irritationsangebot gegenüber der sich selbst beschränkenden Subjektivität des Rezipienten als auch in epistemischer Perspektive als Argwohn gegenüber einem als alternativlos erscheinendem Faktischen. Kritischer Umgang mit Literatur und Medien wäre sodann nicht identisch mit den Facetten von Literatur- und Medienkritik oder mit sich kritisch ausweisender, inszenierender oder verstehender Literatur. Vielmehr zielte dieser darauf ab, anhand von Literatur und Medien nach den Lücken in den vermeintlich festen Realitätsgebilden zu fahnden und mittels immanenter Kritik deren inhärent angelegte Ressourcen und zur Wirklichkeit drängende Latenz als Freiheitsräume des Ausdrucks sichtbar zu machen. Da im ästhetischen Kontext Haltungen, Einstellungen und Sichtweisen unverbindlich simulierend erprobt und spielerisch eingeübt werden können, erlernt man gerade hier und in besonderem Maße für die eigenen Überzeugungen expressiv und argumentativ einzustehen. Eine so verstandene Kritik durch Kunst vermag sich gegen die eigene Ermattung gleichermaßen zur Wehr zu setzen wie gegen fremde Disziplinierungen, weil eine so verstandene Kritik das pragmatische Prinzip ‚Unmöglich‘ unmöglich macht. Aus der Perspektive der Kritik reicht es eben nicht aus, gute Gründe und Plausibilitäten für den Einsatz von Literatur im Unterricht anzuführen ohne zugleich auch deren Präsuppositionen zum Gegenstand eines selbstreflexiven Diskurses hervorzubringen (Menschenbild, ästhetische Präferenzen, Geschichtsverständnis, Lerntheorie, normative Setzungen und ethische Befunde etc.). Für den komplizierten Kontaktbereich zwischen wissenschaftlich betriebener Germanistik und Selbstbildung von Lehramtsstudenten einerseits sowie dem komplexen Professionalisierungswissen hinsichtlich der Interdependenz von prospektiven beruflichen Anforderungsprofilen und den hierfür notwendigen Reflexionskompetenzen andererseits bedeutet dies: Eine kritische Haltung, Sichtweise und Intellektualität ist zugleich gegenüber den Wissensgegenständen, den Forschungs- und Aneignungsmethoden sowie gegenüber dem eigenen Bildungshabitus und der Antizipation prospektiver Berufskompetenz nötig. Ohne eine intellektuell anspruchsvolle Korrelation von Wissen und Kritik, davon geht die Tagung aus, gibt es auch keine Garantie gegen alle möglichen Varianten von Trivialisierung und Banalität. Erst wenn der geisteswissenschaftlich kompetente Deutschlehrer nicht länger als unvermittelte Summe aus Fachwissen plus didaktischer Expertise gedacht wird, sondern als kritischer Selbstbildner in allen Phasen seiner Ausbildung, kann die unablässig drohende Selbsttrivialisierung ebenso abgewiesen werden wie die institutionell verfestigten Zumutungen akademisch verengter Fachwissenschaft gegenüber einer völlig falschen und trivialisierenden Sichtweise auf Fachdidaktik. Darüber hinaus gilt es das Problem zu klären, was kritisches Denken und Verhalten in Studium, Forschung und Lehre überhaupt mit der Ausbildung von Unterscheidungsvermögen und mit der Herstellung von Zusammenhängen zu tun hat. Hierzu werden Konzepte von Kritik an sprach und literaturwissenschaftlichen Gegenständen so vorgestellt, dass zwei Aspekte besonders bearbeitet werden: Kritik meint zunächst grundsätzlich die Ausbildung von Urteilskraft als doppeltem Unterscheidungsvermögen gegenüber Gegenständen und Ansichten über Gegenstände. Zum anderen ist ein avanciertes Unterscheidungsvermögen als eine Urteilskraft im Sinne der Neubestimmung von Zusammenhängen angesprochen. So verstanden sind kritische Diskurse vor allem auch Verständigungsformen über die Maßstäbe, nach denen überhaupt zu unterscheiden, beurteilen und zu entscheiden ist. Relevant werden diese Fragestellungen dann, wenn unter wissenschaftlicher und kritischer Bildung verstanden wird, dass sich theoretische Phantasie besonders auf zwei Gebieten ausbilden kann. Erstens auf dem Gebiet der Kritik, d.h. der regelgeleiteten Überprüfung des Gegebenen, denkend Unterscheidungen vornehmen zu können, um den Schein des Unmittelbaren zu durchbrechen und als jeweils Vermitteltes nachweisen zu können. Und zweitens im Hinblick auf das Unterscheidungsvermögen gegenüber Werturteilen / Ansichten / Bewertungen von Gegenständen und Sachverhalten. Es geht hier u.a. darum zu erkennen und zu reflektieren, dass jedem Denken und (sprachlichem) Handeln bereits weltanschaulich verankerte Wertentscheidungen zugrunde liegen. Hiervon ausgehend wird es darum gehen, die anzustrebenden Berührungsflächen zwischen Sprachanalyse, Literatur- und Medienbetrachtungen exemplarisch so zu bearbeiten, dass die zentralen Probleme sichtbar werden und alternative Vorschläge diskutiert werden können. Konkret lassen sich folgende Fragen und Problemfelder, die überarbeitet werden sollen, aufführen: Was heißt Kritik in sprachwissenschaftlichen und literaturwissenschaftlichen Zusammenhängen? Welche Rolle spielen die sprach- und literaturwissenschaftlichen Konzepte von Kritik im Kontext der universitären Lehrerausbildung und wie können diese fruchtbar zusammengebracht werden? In welchem Zusammenhang stehen Wissen und Kritik in sprach-, literatur- und medienanalytischen Zusammenhängen? Welche epistemische Rolle spielt ein Modus der Kritik für den Kontakt zwischen Fachwissenschaften und Fachdidaktiken? Was bedeutet Sprachkritik in verschiedenen Kommunikationszusammenhängen und Bereichen wie z. B. der Alltagssprache, der Literatursprache, der Sprache in verschiedenen (auch neuen) Medien? Welche Rolle spielen Normenreflexion und Normenkritik im Kontext von Literatur- und Sprache? Welche Kriterien kritischer Analyse spielen in den verschiedenen disziplinären Kontexten eine Rolle? Können sich diese Kriterien ergänzen? Wie können sprachkritische Kriterien der Analyse (wie z.B. das Kriterium der Angemessenheit) im Kontext der Arbeit mit Literatur in Zusammenarbeit mit der Literaturdidaktik / Literaturwissenschaft zur Geltung gebracht bzw. methodisch umgesetzt werden? Welche konkreten Perspektiven lassen sich für die Integration linguistischer und literaturwissenschaftlicher Fragestellungen im Hinblick auf den Kritik- und Wissensbegriff entwerfen? Welche konkreten Gegenstände könnten Anlass für ein integratives Vorgehen (auch im Hinblick auf didaktische Fragestellungen) darstellen? Was bedeutet es, Literatur als Form von Kritik zu denken und welches literaturwissenschaftliche Wissen ist besonders Relevant für die Lehrerausbildung? Worin bestehen jeweils die Unterschiede zwischen der Kritik von Literatur und einer Kritik durch Literatur?
Birkmeyer, Jens | Germanistisches Institut - Abteilung: Literatur- und Mediendidaktik |
Spieß, Constanze | Professur für Sprachwissenschaft/Sprachdidaktik des Deutschen (Prof. Köpcke) |
Birkmeyer, Jens | Germanistisches Institut - Abteilung: Literatur- und Mediendidaktik |