Die Otolithenorgane, Sacculus und Utriculus, sind hochempfindliche Sensoren für lineare Beschleunigungen. Zur Überprüfung ihrer Funktion bei Patienten mit Schwindelsymptomen bedient man sich derzeit allerdings eines Effektes, der wenig mit dieser natürlichen Aufgabe zu tun hat. Auch Tonpulse hoher Intensität oder Schädelvibrationen vermögen nämlich das vestibuläre System zu stimulieren und Reflexe auszulösen, die im gemittelten Elektromyogramm (EMG) eines beteiligten Muskels als vestibulär evoziertes myogenes Potential (VEMP) in Erscheinung treten. Das von der Halsmuskulatur abgeleitete cVEMP ist Ausdruck des vestibulocollischen Reflexes, während das von den äußeren Augenmuskeln herrührende oVEMP Ausdruck des vestibulookulären Reflexes ist. Unter physiologischen Bedingungen stabilisieren diese beiden Reflexe die Kopfposition im Raum bzw. den Blick. Obwohl VEMP-Mesungen zunehmend Eingang in die klinische Diagnostik finden, sind viele fundamentale Fragen noch unzureichend untersucht, und manche Ergebnisse werden kontrovers diskutiert. Ein zentrales Anliegen dieses Projektes ist es, die unter den derzeit üblichen, unphysiologischen Bedingungen erhaltenen VEMPs in Beziehung zu setzen zu EMG-Veränderungen bei linearen Beschleunigungen. Diese der eigentlichen Funktion der Otolithenorgane entsprechende Art der Stimulation soll dadurch realisiert werden, dass der Kopf impulsförmig aus seiner Ruhelage gebracht wird. Eigene Arbeiten haben in zweierlei Hinsicht wichtige Voraussetzungen für dieses Forschungsvorhaben geschaffen. Zum einen haben unsere theoretischen Studien den Weg dafür geebnet, experimentelle Daten modellbasiert zu interpretieren und Vorhersagen bezüglich denkbarer neuer Experimente zu machen. Zum anderen führten unsere experimentellen Untersuchungen zur Einführung einer neuen Messgröße, der VEMP-assoziierten Varianzmodulation. Insbesondere bei langsameren EMG-Veränderungen, wie sie in den hier geplanten Experimenten zu erwarten sind, verspricht die Varianzmodulation erhebliche Vorteile gegenüber dem VEMP. Die Untersuchungen sollen nicht nur dazu beitragen, ein grundlegenderes Verständnis des VEMP-Phänomens und seiner Varianten zu erlangen, sondern es sollen zugleich Stimulationsprozeduren erarbeit werden, die Patienten als deutlich weniger belastend empfinden als die gegenwärtig üblichen, wo die VEMP-Schwelle selbst bei Gesunden oftmals im Bereich des maximal tolerierbaren Stimuluspegels liegt. Um zu prüfen, inwieweit unterschiedliche methodische Vorgehensweisen zu konsistenten diagnostischen Schlussfolgerungen führen, sollen neben gesunden Probanden letztendlich auch Personen mit bestimmten vestibulären Erkrankungen (z.B.vestibuläre Neuritis, Morbus Menière) untersucht werden.
Lütkenhöner, Bernd | Klinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde |
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