Die über 1000-seitige Monographie, die im Zeitraum von 2001-2010 entstand, wurde vom Fördererverein der WWU unterstützt und erschien 2011 bei de Gruyter. Sie entwickelt eine neuartige Kulturgeschichte Indiens anhand von Klangwahrnehmung, Performanzen und Sprachreflektionen im Sanskrithinduismus und bearbeitet den indischen Phonozentrismus und den Hinduismus als eine hoch sonale Kultur auch theoretisch und methodisch. Die Zentralität des Klangs und seine herausragende Bedeutung als Medium der Kommunikation wurden in bisherigen Hinduismusdarstellungen kaum wahrgenommen. Man konzentrierte sich bei literarischen Quellen auf ihren literarischen Aussagegehalt und zog bestenfalls noch archäologische Zeugnisse und bildliche Darstellungen, etwa Götterikonen, heran. Dies entspricht einer westlichen Erwartungshaltung. Wer jedoch einzig mit Philologie, Epigraphie, Archäologie und Kunstgeschichte im Handgepäck den Hinduismus zu erkunden sucht, dem entgehen gerade jene medialen Kanäle, die für Hindus selbst oft am zentralsten sind. Als Philologe, so eine im Band entwickelte These, entsagt man freiwillig einer wichtigen Informationsquelle über die Sanskritkultur, wenn man darauf besteht, deren literale Quellen als Bücher im westlichen Sinne, d. h. einzig als diskursive Datenträger bar jeder klanglichen Realisation und bar jeder sinnlich-ästhetischen und emotiven Wirkung zu lesen. Im hinduistischen Indien hat seit altersher bis heute stets das gesprochene oder besser das „tönende" Wort den Vorrang über dem geschriebenen Wort gehabt und Texte interessieren immer auch - und manchmal sogar ausschließlich - als Klangereignisse, sowohl in der gelebten Praxis als auch in der reflektierenden Rezeption. In bisherigen Hinduismusdarstellungen wurde zwar die Wichtigkeit der Oralität erkannt, aber es wurden kaum methodologische Konsequenzen gezogen und die Eigenvalenz des Klanglichen wenig bedacht. Nicht nur Oralität, sondern auch Sonalität ist im hinduistischen Indien jedoch von hoher kultureller Wertigkeit und prägt den Umgang mit Texten, inspiriert eigene Riten, Modelle kosmischer Ordnung, abstrakte Formelsprachen und dient der Stimulierung und Versinnlichung religiöser Gefühle. Neben einem ungeheuer umfangreichen Spektrum rezitierter und gesungener sakraler Texte und der Entwicklung einer reichen Performanzkultur, sinnlich-affektiven Kultformen und regelrechten Klangriten wurden bedeutende Beiträge zu Sprachphilosophie, Linguistik, Ästhetik und non-verbaler Kommunikation verfasst. Es existiert eine überaus reiche religiöse und säkulare Literatur, die Sprache und Klang poetisch umsetzt und philosophisch durchdringt. Gelebte Praxis und religiöse Alltagskultur werden im Band ebenso behandelt wie der reflektierende Umgang mit Sprache und Klang in indischen Wissenschaftskulturen, Metaphysik, Poetik und Musikologie. Insbesondere werden die Inszenierungsaspekte von Kommunikation und der Ereignischarakter religiöser Texte fokussiert; einerseits ihre „Flüssigkeit" in der Transmission und Rezeption, andererseits ihre klangliche Materialität als rezitierte, gesungene, aufgeführte und inszenierte „Klangereignisse". Eingefordert wird ein erweiterter hermeneutischer Zugang zu religiösen Texten, der auch die Klangwahrnehmung mit einbezieht. Zu den zentralen Fragestellung des Bandes gehört: Welche Weltbilder und Habitusformen sind in einer Wirklichkeit entstanden, die derart stark von klangliches Erleben geprägt ist? Diese ungewöhnliche Kulturgeschichte Indiens bietet einen stimulierenden Beitrag zu einem wichtigen, meist vernachlässigten Aspekt gelebter Religiosität und exemplifiziert anwendungsorientiert wie auch systematisch-theoretisch die Religionsästhetik - eine neue Perspektive in der Religionswissenschaft, die in den letzten Jahren paradigmatische Wichtigkeit erlangt hat. Mit dem Fokus auf sinnliche Wahrnehmungsräume und kulturelle Wahrnehmungs- und Sinneshierarchien leistet der Band zugleich einen Beitrag zur Diskursivität und Kulturalität symbolischer Formen bis in die unterschiedlichen Wissenschaftsstile antiker Mathematiker in Indien und Europa hinein. In Anknüpfung und Weiterbearbeitung älterer und neuerer Kulturtheorien, insbesondere Ernst Cassirers Theorie symbolischer Formen, Susanne Langers Unterscheidung präsentativer und diskursiver Ausdruckssysteme, Stanley Tambiahs Differenzierung partizipativer und kausaler Weltorientierungen und Kurt Hübners Mythostheorie wird eine eigene kulturtheoretische und -vergleichende Perspektive entworfen und nicht zuletzt werden auch neue Aspekte zur Oralitäts- und Literalitätsdebatte und zur Geschichte der Rationalität eingebracht. Der Band fand bereits kurz nach Erscheinen international in unterschiedlichen Disziplinen (Religionswissenschaft, Soziologie, Philosophie, Musikwissenschaft) ein positives Echo.
| Wilke, Annette | Professur für Allgemeine Religionswissenschaft (Prof. Wilke) |
| Wilke, Annette | Professur für Allgemeine Religionswissenschaft (Prof. Wilke) |