Das Besondere der Erzählgattung Novelle ist ihre Eigenschaft, Eindeutigkeit zu überschreiten und Exemplarität zu problematisieren. Sie unterscheidet sich darin von älteren Erzählformen, insbesondere vom Exemplum. Der Verzicht auf religiöse Unterweisung ist Anzeichen dafür, dass sich die volkssprachige Literatur von der Religion, mit der sie in ihren Ursprüngen eng verbunden ist, abzugrenzen beginnt. Die Novellistik wird zur Beobachtungsinstanz von Religion und erörtert religiöse Fragen außerhalb theologischer Expertenkreise. Anhand spektakulärer Einzelfälle reflektieren die Novellen religiöse Praktiken wie Heiligenverehrung und Pilgerwesen, sie widmen sich der Ehe als sozialer Institution und als Sakrament, loten das Verhältnis von Recht und Religion aus und analysieren religiöse Redeformen wie Predigt und Beichte. Die Novellen führen ferner das konstruktive Potential von Sprache als Medium der Religion und der Literatur vor Augen. Sie weisen damit auf ein Problem hin, das auch Theologen beschäftigt: die Frage nach der Unterscheidbarkeit von Wahrheit und Täuschung, nach der möglichen Diskrepanz von innerer Haltung und äußerer Repräsentation. Am Beispiel heuchlerischer Mönche und falscher Heiliger zeigen sie, dass sprachliche und außersprachliche Zeichen täuschen können. Indem sie Gewissheiten in Zweifel ziehen, eröffnen sie einen Raum der Toleranz, in dem Differenz produktiv wahrgenommen wird. Das Projekt will narrative Prozesse der Reflexion über Religion in der Novellistik herausarbeiten und systematisieren. Es will zudem zeigen, wie Novellen religiöse Fragen mit sprachphilosophischen, zeichen- und metapherntheoretischen Verfahren analysieren. Im Fokus stehen Giovanni Boccaccios Decameron, Marguerite de Navarres Heptaméron und Miguel de Cervantesʼ Novelas Ejemplares.
Doering, Pia Claudia | Exzellenzcluster 2060 - Religion und Politik. Dynamiken von Tradition und Innovation |
Doering, Pia Claudia | Exzellenzcluster 2060 - Religion und Politik. Dynamiken von Tradition und Innovation |